Carl Nixon: Kerbholz

  Die Überlebenden

Am 4. April 1978 stürzt an der dünn besiedelten Westküste von Neuseelands Südinsel das Auto der sechsköpfigen britischen Familie Chamberlain auf regennasser Straße aus fast 20 Meter Höhe in einen Fluss. Nur die drei schlafenden Kinder auf dem Rücksitz überleben das Unglück: der 14-jährige Maurice mit einem kaputten Bein, die 12-jährige Katherine und der 7-jährige Tommy mit einer schweren Kopfverletzung. Es gelingt ihnen nicht, Hilfe zu holen, doch kommt nach drei Tagen ein wild aussehender Fremder mit einem Gewehr vorbei, der die Brieftasche und die Uhr des Vaters an sich nimmt und die Kinder zu einer einsam in einem Tal gelegenen Farm bringt. Martha, weiblicher Teil des Hippie-Pärchens und gesundheitlich angeschlagen, braucht Unterstützung bei der Farmarbeit, er selbst, Peters, der in einem alten Bus in der Nähe lebt, Hilfe auf seiner Marihuana-Plantage und mit seinen Bienen.

Collage: © B. Busch. Cover: © CulturBooks

Vergebliche Suche
Weil zunächst niemand die Familie vermisst, beginnt die polizeiliche Suche in dem zerklüfteten Gelände erst nach drei Wochen. Kurz darauf trifft Suzanne aus Großbritannien ein, die Schwester der toten Mutter. Insgesamt vier Suchaktionen startet sie in den Jahren bis 1983 und nimmt dafür sogar das Scheitern ihrer Ehe in Kauf. Ihre Bemühungen bleiben am Ende erfolglos, weil sie unmittelbar vor der Auflösung Opfer ihrer fehlenden Vorstellungskraft wird.

32 Jahre später erhält Suzanne 2010 plötzlich einen Anruf: Die sterblichen Überreste von Maurice wurden gefunden, zusammen mit einem geheimnisvollen Holzstück voller Einkerbungen, der Rolex seines Vaters, einem ledernen Hundehalsband und einem Geldbündel. Sensationell ist der Zeitpunkt seines Todes: Maurice muss, als er von einer Klippe ins Meer stürzte, 17 oder 18 Jahre alt gewesen sein, hat also nach dem Unfall noch drei oder vier Jahre gelebt. Wo und wie hat er diese Zeit verbracht? Was geschah in jenem April vor 32 Jahren und wo sind die übrigen vermissten Familienmitglieder? Könnte noch jemand am Leben sein?

Anpassen oder rebellieren?
In 36, nicht chronologisch geordneten und jeweils mit einer Zeitangabe überschriebenen Kapiteln schildert der 1967 geborene neuseeländische Autor Carl Nixon, was zwischen dem April 1978 und der Beisetzung der sterblichen Überresten von Maurice in Großbritannien im Februar 2011 geschah: bei Maurice, Katherine, Tommy und Suzanne. Plötzlich auf sich alleingestellt und in einer Welt, die in nichts ihrer gewohnten Umgebung in einer gutsituierten britischen Mittelschichtsfamilie glich, nahmen die Kinder den Überlebenskampf in völlig unterschiedlicher Weise auf: von Anpassung bis Rebellion, von intensiver Bewahrung der Erinnerungen bis Vergessen.

Eine literarische Entdeckung
Obwohl Kerbholz bei seinem Erscheinen in der deutschen Übersetzung von Jan Karsten im Jahr 2023 auf der DLF-Krimibestenliste stand, gleicht es doch in keiner Weise einem gewöhnlichen Krimi, sondern ist vielmehr ein psychologisch höchst interessanter und überraschender, äußerst raffiniert komponierter Spannungsroman mit einem ungeheuren Sog. Atemberaubend sind die sehr lebendigen Naturschilderungen der rauen neuseeländischen Westküste, die mir immer wieder Atempausen beim schwer zu ertragenden Auf und Ab der Handlung gewährten. Sämtliche Figuren agieren nachvollziehbar, und obwohl die Sympathien klar bei den Kindern liegen, unterschlägt Carl Nixon auch positive Charakterzüge von Martha und Peters nicht.

Kerbholz ist ein genial erzähltes existentielles Drama, das durch seine Intensität ans Herz geht und dem ich viele Leserinnen und Leser wünsche.

Carl Nixon: Kerbholz. Aus dem Englischen von Jan Karsten. CulturBooks 2023
www.culturbooks.de

2 Kommentare

    1. Das freut mich sehr! Ja, das ist die Gefahr beim Stöbern auf Buchblogs… Warum soll es dir besser gehen als mir? 😉
      Liebe Grüße zurück
      Barbara

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